
RECHTLICHE DEFINITION DES VERBRECHENS
Das Verbrechen der Flucht eines Verurteilten oder Inhaftierten ist im Türkischen Strafgesetzbuch (TCK) unter dem Titel „Straftaten gegen die Justiz“ in Artikel 292 geregelt. Der betreffende Gesetzesartikel lautet:
TCK Artikel 292
(1) Gegen einen Häftling oder Verurteilten, der aus dem Gefängnis, der Vollzugsanstalt oder aus der Obhut der ihn überwachenden Beamten entkommt, wird eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr verhängt.
(2) Wird dieses Verbrechen unter Anwendung von Gewalt oder Drohungen begangen, so wird eine Freiheitsstrafe von einem bis zu drei Jahren verhängt.
(3) Wird das Verbrechen bewaffnet oder von mehreren Häftlingen oder Verurteilten gemeinsam begangen, so kann die nach den vorherigen Absätzen verhängte Strafe bis zur doppelten Höhe erhöht werden.
(4) Tritt während der Begehung dieses Verbrechens eine vorsätzliche Körperverletzung mit schweren Folgen, ein vorsätzlicher Tötungsakt oder Sachbeschädigung ein, so wird zusätzlich gemäß den entsprechenden Bestimmungen für diese Straftaten bestraft.
(5) Die Bestimmungen dieses Artikels gelten auch für Verurteilte, die außerhalb der Vollzugsanstalt arbeiten, sowie für diejenigen, deren Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe umgewandelt wurde.
Es wird festgelegt, dass ein Häftling oder Verurteilter, der aus dem Gefängnis, der Vollzugsanstalt oder aus der Obhut der ihn überwachenden Beamten entkommt, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr bestraft wird.
Tatbestandsmerkmale
Das Delikt des Ausbruchs eines Verurteilten oder Inhaftierten weist sowohl objektive als auch subjektive Elemente auf und lässt sich anhand folgender Grundpfeiler beschreiben:
- Täter:
Ein Inhaftierter ist eine Person, die während des Ermittlungs- oder Strafverfahrens aufgrund des Verdachts der Flucht oder der Vernichtung von Beweismitteln inhaftiert und in ihrer Freiheit eingeschränkt wurde. Ein Verurteilter ist eine Person, gegen die im Ergebnis eines Strafverfahrens ein rechtskräftiges Urteil ergangen ist. Nach Art. 292 des Türkischen Strafgesetzbuches kann Täter dieses Delikts nur eine Person mit dem Status eines Inhaftierten oder Verurteilten sein. Entscheidend für die Entstehung der Straftat ist, ob gegen den Täter ein Haftbefehl oder ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Ebenso können Personen, die außerhalb von Vollzugsanstalten eingesetzt werden, sowie Verurteilte, deren Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe umgewandelt wurde, Täter dieses Delikts sein (TCK Art. 292/5).
Allerdings reicht es nicht aus, lediglich Verurteilter oder Inhaftierter zu sein, um Täter dieses Delikts zu werden. Damit die Straftat verwirklicht wird, muss die Person tatsächlich aus dem Gefängnis, der Vollzugsanstalt oder der Aufsicht der zuständigen Beamten fliehen. Selbst wenn ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, kann von einer Straftat nach Art. 292 TCK nicht die Rede sein, wenn der Verurteilte vor der Übergabe an die Vollzugsanstalt flieht, da er zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Vollzugsanstalt aufgenommen wurde.
2. Opfer:
Im Hinblick auf dieses Delikt ist das Opfer der Staat, also die öffentliche Autorität.
3. Handlung (Handlungselement):
Nach Art. 292 TCK besteht das Handlungselement in der Tat des „Entkommens“ aus dem Gefängnis, der Vollzugsanstalt oder aus der Obhut der zuständigen Aufsichtspersonen.
4. Geschütztes Rechtsgut:
Das Delikt des Ausbruchs eines Verurteilten oder Inhaftierten ist unter der Überschrift „Straftaten gegen die Justiz“ geregelt. Das durch diese Straftat geschützte Rechtsgut ist die staatliche Autorität.
5. Subjektives Element (Vorsatz):
Die Straftat kann nur vorsätzlich begangen werden. Es reicht aus, dass der Täter bewusst handelt und weiß, dass er flieht. Eine fahrlässige Begehung ist gesetzlich nicht möglich.
Qualifizierte Tatbestände des Delikts
Der in Artikel 292 des türkischen Strafgesetzbuches geregelte Tatbestand der Flucht eines Verurteilten oder Inhaftierten ist in bestimmten Fällen mit qualifizierenden Umständen verbunden, die schwerere Strafen erfordern. Die im Gesetz genannten qualifizierten Umstände sind folgende:
1-Begehung der Tat unter Anwendung von Gewalt oder Drohung (TCK Art. 292/2): Wenn die Flucht unter Anwendung von Gewalt oder Drohung erfolgt, wird der Täter mit einer Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren bestraft.
2-Begehung der Tat mit einer Waffe oder gemeinsam durch mehrere Verurteilte oder Inhaftierte (TCK Art. 292/3): Wenn die Tat unter Verwendung einer Waffe oder gemeinsam von mehreren Inhaftierten oder Verurteilten begangen wird, kann die im vorhergehenden Absatz festgelegte Strafe bis zum Doppelten erhöht werden.
3-Verschärfte Folgen der Tat (TCK Art. 292/4): Wenn während der Tat vorsätzliche Körperverletzung, vorsätzliche Tötung oder Sachbeschädigung eintritt, werden diese Taten gesondert bewertet und der Täter zusätzlich gemäß den entsprechenden strafrechtlichen Bestimmungen bestraft.
AKTIVE REUE
Nach Artikel 293 des türkischen Strafgesetzbuches wurde für das Delikt der Flucht eines Verurteilten oder Inhaftierten eine spezielle Regelung zur aktiven Reue eingeführt. In dem betreffenden Gesetzesartikel heißt es: „Wenn der Inhaftierte oder Verurteilte nach der Flucht durch aktive Reue von sich aus gestellt wird, wird die verhängte Strafe unter Berücksichtigung der Zeit vom Tag der Flucht bis zum Tag der Übergabe von fünf Sechstel auf ein Sechstel reduziert. Überschreitet die Fluchtzeit jedoch sechs Monate, erfolgt keine Strafminderung.“
Damit die Vorschriften über aktive Reue angewendet werden können, muss der Verurteilte oder Inhaftierte sich freiwillig stellen.
KLAGEFRIST, VERJÄHRUNG UND ZUSTÄNDIGES GERICHT
Die nach Artikel 292 des türkischen Strafgesetzbuches geregelte Straftat unterliegt keiner Anzeigeverpflichtung; die Ermittlungen werden von der Staatsanwaltschaft von Amts wegen durchgeführt. Obwohl es keine Frist für die Einreichung einer Anzeige gibt, unterliegt der Prozess einer Verjährungsfrist von acht Jahren. Das zuständige Gericht ist das Strafgericht erster Instanz (Asliye Ceza Mahkemesi).
GERICHTLICHE GELDSTRAFE, AUSSETZUNG DER URTEILSBEKANNTGABE UND VERSCHIEBUNG DER STRAFE
Gemäß Art. 292 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) wird auf einen Gefangenen oder Verurteilten, der aus dem Gefängnis, der Strafvollzugsanstalt oder den Händen der unter seiner Aufsicht stehenden Beamten flieht, eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu einem Jahr verhängt. Unter Berücksichtigung der unteren und oberen Strafgrenzen ist es möglich, die Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe umzuwandeln, die Verkündung des Urteils auszusetzen oder die Strafe zu verschieben. Ebenso ist es möglich, eine verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr oder weniger in eine Geldstrafe umzuwandeln.
RELEVANTE URTEILE ZUM THEMA
„…Bezüglich des Revisionsantrags gegen das Urteil wegen des Delikts der Flucht eines Gefangenen oder Inhaftierten: Nach Aktenlage handelte es sich bei dem Vorfall um das Durchsägen des Fenstergitters der Haftraum-Lüftung durch den Angeklagten. Obwohl diese Handlung den Straftatbestand der Sachbeschädigung an öffentlichem Eigentum erfüllt, wurde das Delikt der Flucht aus dem Gefängnis gemäß Art. 292/1 TCK fälschlicherweise angenommen, obwohl die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt waren. Dies erforderte die Aufhebung des Urteils. Da die Revisionsgründe des Angeklagten in diesem Zusammenhang als begründet angesehen wurden, wurde das Urteil am 08.12.2021 einstimmig AUFGEHOBEN…“ (Oberstes Berufungsgericht, 2. Strafkammer, 2020/17368 E., 2021/20996 K., 08.12.2021).
„…Damit das in Art. 292 Abs. 1 TCK geregelte Delikt der Gefangenenflucht erfüllt ist, muss der Täter inhaftiert oder verurteilt sein. Im konkreten Fall wird zwar behauptet und akzeptiert, dass der Angeklagte nach Vorlage eines Haftbefehls zur Polizeistation gebracht wurde und dort unter dem Vorwand, die Toilette aufzusuchen, geflüchtet ist; dennoch wurde das Vorliegen eines Haftbefehls oder gegebenenfalls rechtskräftiger Verurteilungen zum Zeitpunkt der Flucht nicht eindeutig festgestellt. Aufgrund dieser unvollständigen Ermittlungen wurde fälschlicherweise angenommen, dass die Tatbestandsmerkmale erfüllt seien, und eine Verurteilung ausgesprochen. Dies ist gesetzeswidrig, und da die Revisionsgründe des Verteidigers in diesem Zusammenhang als begründet angesehen werden, wird das Urteil aus diesem Grund AUFGEHOBEN…“ (Oberstes Berufungsgericht, 9. Strafkammer, 2012/5501 E., 2012/12922 K., 15.11.2012).
„…Im vorliegenden Fall, in dem der Angeklagte mit rechtskräftigem Gerichtsurteil während der Vorbereitung der Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft unter Aufsicht der Vollzugsbeamten geflüchtet ist, befand sich der Angeklagte in der Position eines festgenommenen Verdächtigen. Da die in Art. 292 Abs. 1 TCK vorgesehenen Voraussetzungen, dass der Täter inhaftiert oder verurteilt sein muss, nicht erfüllt waren, hätte auf Freispruch entschieden werden müssen. Stattdessen wurde fälschlicherweise eine Verurteilung ausgesprochen. Außerdem wurde nicht berücksichtigt, dass bei den Eintragungen im Strafregister diejenige Verurteilung mit der höchsten Strafe als Grundlage für Rückfälligkeit zu nehmen ist, was eine Aufhebung erforderlich machte…“ (Oberstes Berufungsgericht, 2. Strafkammer, 2020/17241 E., 2021/5075 K., 10.03.2021).
„…Damit das Vergehen der Flucht eines Verurteilten oder Inhaftierten erfüllt ist, muss die Person, gegen die ein Haftbefehl oder ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, aus dem Gefängnis, der Vollzugsanstalt oder den Händen der sie beaufsichtigenden Beamten fliehen. Im vorliegenden Fall wurde der Angeklagte, der wegen Ablauf seines Sonderurlaubs zur Übergabe in die Vollzugsanstalt kam, bei der von den Beamten durchgeführten Leibesvisitation ein auffälliges Kleidungsstück festgestellt. Als er aufgefordert wurde, die darin befindliche Substanz – die sich später als Cannabis herausstellte – herauszugeben, versuchte er, die Drogen zu verstecken oder zu entsorgen, indem er von den Beamten weglief und sich in den Innenhof des Gefängnisses bewegen wollte. Da seine Handlung jedoch nicht auf eine Flucht aus der Vollzugsanstalt gerichtet war, hätte er von einem nicht gegebenen Straftatbestand freigesprochen werden müssen. Stattdessen wurde aufgrund fehlerhafter Bewertung eine Verurteilung ausgesprochen. Dies ist gesetzeswidrig, und der Revisionsantrag des Angeklagten ist in dieser Hinsicht begründet, weshalb das Urteil aus diesem Grund gemäß Art. 321 CMUK Nr. 1412 in Verbindung mit Art. 8/1 des Gesetzes Nr. 5320 aufgehoben wurde…“ (Oberstes Berufungsgericht, 8. Strafkammer, 2017/15131 E., 2018/8930 K., 11.09.2018).
„…1. Der vorliegende Fall betrifft den Vorwurf, dass der Angeklagte während seiner Haft im offenen Gefängnis Torbalı während eines gewährten Sonderurlaubs nicht zurückkehrte und dadurch die Straftat der Flucht beging. 2. Über die Nicht-Rückkehr des Angeklagten in die Einrichtung wurden Protokolle sowie ein Fluchtbericht vom 30.07.2015 erstellt. 3. Die von der Polizeidirektion Muğla am 26.01.2016 ausgestellten Unterlagen zur Ergreifung des Angeklagten wurden der Akte hinzugefügt. IV. BEGRÜNDUNG 1. Es geht hervor aus den im gesamten Gerichtsverfahren erhobenen Beweisen, dass der Angeklagte während seines Sonderurlaubs aus dem offenen Gefängnis Torbalı nicht zurückkehrte, von den Strafverfolgungsbehörden gefasst und erneut in die Haftanstalt gebracht wurde, und dass er trotz Anwendung des vereinfachten Verfahrens gegen diese Entscheidung Einspruch einlegte. Daher liegen im Urteil des erstinstanzlichen Gerichts keine Rechtsverstöße vor. 2. Es ist festzustellen, dass die Verfahrenshandlungen ordnungsgemäß und gesetzeskonform durchgeführt wurden, dass die im Verfahren vorgebrachten Behauptungen und Verteidigungen zusammen mit allen gesammelten Beweisen im begründeten Urteil dargelegt und erörtert wurden, dass festgestellt wurde, dass die Tat vom Angeklagten begangen wurde, dass das Gewissen des Gerichts auf den Akten und den darin enthaltenen Informationen beruhte und auf eindeutigen Daten basierte und dass die Tatqualifikation sowie die verhängten Sanktionen korrekt bestimmt wurden. Aus diesem Grund wurden auch die sonstigen, vom Angeklagten vorgebrachten Revisionsgründe abgelehnt…“ (Oberstes Berufungsgericht, 8. Strafkammer, 2021/18604 E., 2023/2358 K., 24.04.2023).
„…Bezüglich des Angeklagten wurde vom Gericht mit Beschluss vom 10.11.2014, Aktenzeichen 2014/500 Esas, 2014/65 Karar, gemäß Artikel 191 des türkischen Strafgesetzbuches (TCK) in der Fassung des Artikels 68 des Gesetzes Nr. 6545 und dem vorübergehenden Artikel 7 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 5320, aufgrund gesetzlicher Verpflichtung, die „Aussetzung der Verkündung des Urteils“ nach den Bestimmungen des Artikels 191 TCK angeordnet. In diesem Zusammenhang, unter Berücksichtigung der besonderen Regelungen für Straftaten des Drogenkonsums, sowie gemäß Absatz 4 desselben Gesetzes gilt:
Während der Aussetzungsfrist:
a) Besteht der Angeklagte darauf, den ihm auferlegten Pflichten oder den Anforderungen der angewendeten Behandlung nicht nachzukommen,
b) Erwerb, Annahme oder Besitz von Drogen oder Stimulanzien zum Wiedergebrauch,
c) Konsum von Drogen oder Stimulanzien,
wurde die Verkündung des Urteils nicht berücksichtigt. Die Verurteilung wegen der während der Überwachungszeit begangenen „Flucht eines Gefangenen oder Verurteilten“ wurde rechtskräftig, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen. Dies ist gesetzeswidrig. Da die Revisionseinwände des Angeklagten in diesem Punkt berechtigt sind, wurde beschlossen, das Urteil aufzuheben, und zwar einstimmig am 22.05.2019…“ (Oberstes Berufungsgericht, 10. Strafkammer, 2016/1013 E., 2019/3179 K., 22.05.2019).
Anwalt. Gökhan AKGÜL & Anwalt. Yasemin ERAK